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Die Kraft der Stille, oder: Wie ich lernte den Mund zu halten

Als erstes möchte ich vorausschicken, dass ich – auf bayrisch gesagt – eine absolute «Gschaftlhuberin« bin. Das bedeutet, dass ich nicht stillsitzen kann, weil ich ständig etwas machen möchte.

Michaela Merten,
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Selbst wenn ich mich in die Badewanne verziehe, um mich selbst nach einem langen Tag zu belohnen, springe ich nicht selten aus dem Wasser, renne triefend zum Computer um eine Idee oder einen Gedanken aufzuschreiben. Außerdem bin ich ein Nachtmensch – die besten Ideen kommen bei mir spät abends und ich kann die Flut der Ideen und Gedanken nicht so schnell notieren, wie sie aus mir Herausfließen.  So bin ich stolze Besitzerin von gefühlt ca. 48 Reinschreibbüchern – alle mit wunderschönen Covern – alle angefangen, bis zur Mitte beschrieben und dann kommt schon wieder eines in’s Haus mit einem noch schöneren Cover. Der Computer und auch das Handy gehen oft unter der Datenlast in die Knie, denn ich filme und fotografiere mittlerweile meine Ideen, weil es schneller geht als sie aufzuschreiben.

Dies erzähle ich deswegen, weil ich und unsere Tochter Julia ein Schweigeretreat gebucht haben – bei keinem geringerem als Jon Kabat-Zin, dem «Mindfulness-Pabst». Da ich diesen Aufenthalt sehr spontan gebucht habe, hatte ich natürlich keine Ahnung was auf mich zukommt. So fand ich mich eine Woche lang jeden Morgen um 5.30 im großen Meditationsraum wieder, wo wir alle 2 Stunden still dasaßen.  Müßig zu erwähnen, dass alle digitalen Geräte Totalverbot hatten. Aber das war nicht das Schlimmste, damit konnte ich noch leben, aber wir durften nicht einmal unsere Gedanken aufschreiben. Wir sollten schweigen – und zwar von morgens bis abends. Manchmal wurde das Schweigen durch einen gemeinsamen Austausch der gemachten Erfahrungen unterbrochen. Nicht einmal zur Mittagspause durften wir reden.

 


Bevor ich zu meinem persönlichen «Super-Gau-Moment» komme, erzähle ich ich noch ein bisschen über das «Achtsame Gehen» jeden Tag. Glücklicherweise war diese Woche im Sommer, so konnten wir alle draussen auf der Wiese das achtsame Gehen üben. Es sah sehr lustig aus! Über 150 Menschen gingen in zeitlupenartigen Bewegungen barfuß durch den Garten. Von Außen beobachtet sahen wir aus wie Zombies auf Freigang. Mein Revoluzzer-Gen meldete sich sehr stark: «Was für ein Schwachsinn!» «Wozu soll das gut sein? In Zeitlupe wie ein Storch durch die Wiese zu gehen, sich lächerlich zu machen, das soll eine transformierende Wirkung haben?» Meine Bewertungen nahmen kein Ende..... bis ich mich selbst am mentalen Schopf packte und mit mir einen Deal machte: «Michaela, du bist jetzt hier, deinen Widerstand kennst du, mach es doch einfach mal mit, du bist doch die «Meditationstante», also wirst du doch wohl so eine Übung machen können?».

So schob ich meine respektlosen, bewertenden Gedanken beiseite, atmete tief durch und setzte in Zeitlupe für die nächsten 30 Minuten einen Fuß vor den anderen. Was soll ich sagen? Zunächst regte sich NICHTS, dann kamen wieder die inneren Kritiker hoch, die mich lächerlich machen wollten, dann kam eine tiefe Traurigkeit hoch – und da kam: Dankbarkeit! Plötzlich ergriff mich eine Flutwelle von Glückseligkeit, Tränen schossen mir in die Augen und das Gefühl von Dankbarkeit brach aus meinen tiefsten Tiefen hervor. Ich sah meine Füße, spürte das Gras, den Tau, die Kühle, sah die Grashalme, sah die Wiese, die Bäume und fühlte plötzlich, wie großartig mein Körper ist. Wie wundervoll die Schöpfung ist, das alles bereits vollkommen ist – auch ich.

Die Glocke bimmelte, und alle bewegten sich in Zeitlupe wieder zurück in den Raum um zu meditieren. Jetzt wartete die nächste Herausforderung auf mich: Ich konnte es niemanden erzählen! Ich hatte ein weltbewegendes Erlebnis und konnte es niemanden mitteilen! Und ich konnte es nicht aufschreiben. Alles in mir litt. Und dann kam die nächste Übung: Wir durften nicht einmal mehr Augenkontakt machen! Ich verfiel in tiefste Hoffnungslosigkeit. Dieses Gefühl kannte ich gut. Ich fühlte mich isoliert, abgelehnt und nutzlos.

 


Durch die Beobachtung meiner Gefühle – ohne Ablenkung – konnte ich viele Zusammenhänge verstehen. Ich war erstaunt, wieviel emotionales Gepäck ich dennoch mit mir herumtrug, obwohl ich doch schon sooooo viiiiel gemacht habe!

Die nächsten Tage lief es immer besser und ich beobachtete noch viel mehr, welche Mechanismen sich zeigen wollten.

Am letzten Tag durften wir wieder sprechen und ich fühlte mich so glücklich wie noch nie! Ich konnte mich endlich wieder mitteilen. Ich verstand, dass es ein großer und wichtiger Anteil von mir ist durch Menschen Inspiration zu bekommen.

Ich habe in meinem Alltag oft die Möglichkeit mich zurückzuziehen und meinen Gedanken nachzuhängen, aber eine komplette Woche ist doch noch etwas völlig anderes. Ich habe mit mir vereinbart, diese Erfahrung jedes Jahr zu widerholen, jetzt weiß ich mit jeder Zelle meines Körpers was «die Kraft der Stille» bedeutet und wünsche mir, dass jeder von Euch es erleben darf!