Kinder, die Tyrannen sind gibt es nicht...
...wohl aber Erwachsene, die sich tyrannisch Kindern gegenüber verhalten. Oft werden Kinder in Artikeln oder von der Gesellschaft als „Tyrannen“ dargestellt. Kinder sind aber keine kleinen "Tyrannen".
Menschen, die so urteilen, stecken offensichtlich selbst fest in erlebten Bindungs- und Beziehungsmustern und können weniger auf das sehen, was Kinder sind und von uns Erwachsenen brauchen.
Kinder wissen nichts über Tyrannei und wenn sie anstrengend werden, sind sie dabei Strategien zu suchen und zu nutzen, um sich ihre emotionalen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Das ist lebensnotwendig, häufig sogar überlebensnotwendig.
Wenn Eltern die Führung abgeben oder in dieser unsicher sind, zeigen Kinder klarer Signale. Diese werden als massiv wahrgenommen und so warnen Kinderpsychiater davor, in dem sie Worte nutzen, die bestimmte Bilder in den Köpfen der Eltern und anderen Erwachsenen entstehen lassen:
So sprechen sie über diese Kinder als „Tyrannen“ und raten in diesem Zusammenhang gerne dazu, dass Eltern, sich klar von ihren Kindern „abzugrenzen“ hätten, ihnen früh beibringen sollten, was „richtig“ und was „falsch“ ist und den Kindern sagen sollten, was sie tun oder lassen sollen.
Mal abgesehen davon, dass ich es für absolut destruktiv halte, Kinder so zu bezeichnen, halte ich es und auch für unangebracht, Eltern in dieser Weise zu verunsichern.
Denn, dass manche Eltern auf diese Weise mit Kindern umgehen, ist darauf zurückzuführen, dass Eltern sich ein neues Verhältnis zum Kind wünschen. Sie probieren deshalb neuartige Wege aus und versuchen, aus den oft selbst erlebten autoritären Strukturen auszubrechen. Es ist ein Versuch, es anders zu machen. Das ist aus meiner Sicht grundsätzlich positiv zu sehen und ich danke allen Eltern, die es anderes machen wollen, als über trennende Maßnahmen (Sanktionen, Strafen, Schimpfen, Drohen, Meckern).
Umso bedauerlicher ist es, dass über Eltern und ihre angeblich tyrannischen Kinder so abfällig geurteilt und das Eltern-Kind-Verhältnis stark abgewertet wird. Dies beunruhigt Erwachsene offenbar so sehr, dass fast reflexartig der Ruf nach alten Werten wie Disziplin und Respekt laut wird.
Damit wird der Versuch eines Umdenkens auf Elternseite häufig wieder im Keim erstickt. Verunsicherte Eltern versuchen dann mit schlechtem Gewissen, ihre Kinder wieder „in den Griff“ zu bekommen, um sich nicht anhören zu müssen, bei der Erziehung ihrer Kinder „versagt“ zu haben.
Ich kann nur hoffen, dass diese Tendenz nicht stärker wird, und gleichzeitig Eltern nur ermutigen, sich nicht verunsichern zu lassen, und sie einladen, sich auf einen Prozess einzulassen, genauer hinzuschauen, was hinter dem Beziehungsgeflecht wirklich liegt.
Eltern haben oft verschiedene Vorstellungen von sich und ihrem Kind, die dazu führen, dass sich ein solches Beziehungsgeflecht entwickelt. Folgende Aspekte können dabei eine Rolle spielen:
- Das Kind ist unser gemeinsames „Projekt“.
- Das „Projekt“ erhält unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
- Konflikten und Frustrationen gehen wir um jeden Preis aus dem Weg.
- Wir wollen allzeit positive Vorbilder sein, ruhig und unaufgeregt reagieren.
Wer glaubt, auf diese Weise würden Kinder umsorgt und umhegt und es fehle ihnen an nichts, der verkennt deren seelische Situation, denn tatsächlich fehlt es ihnen an elterlicher Fürsorge und emotionaler Sicherheit in der Beziehung. Diese Eltern stehen kaum in einem echten Kontakt, in einer authentischen Beziehung zu ihren Kindern. Sie zeigen sich nicht als Persönlichkeiten mit ihren eigenen Bedürfnissen und entwickeln sich so, in dem Glauben, fürsorglich und liebevoll zu handeln, zu einem regelrechtem „Servicepersonal“ für ihre Kinder. Servicepersonal, das wie in einem Hotel zwar allzeit freundlich und zuvorkommend auftritt, jedoch vorwiegend eine professionell-sachliche, servicebezogene Beziehung zum Gast eingeht. Ziel ist es, dass der Gast sich vor allem wohlfühlt. Das ist so gesehen auch das vorrangige Ziel der „Serviceeltern“. Ein „Nein“ wird vermieden, jeder Auseinandersetzung wird ausgewichen, und alle Wünsche werden deshalb umgehend erfüllt – in der Hoffnung, den Kindern Frustrationen zu ersparen.
In den ersten Lebensjahren wirkt das oft noch umsorgend, mütterlich/väterlich und einfühlend. Später jedoch wird sichtbar, dass ein solcher Umgang stark auf Kosten der Entwicklung der Kinder geht. Die Kinder entwickeln sozial unverträgliche Züge, sie stellen ihre momentanen Bedürfnisse und unmittelbaren Wünsche in den Mittelpunkt und verlangen deren sofortige Befriedigung.
Dies aber nicht, weil sie „Tyrannen“ oder Egomanen sind, sondern weil die Grenzen der Erwachsenen, und damit das gesamte Gegenüber, nicht sichtbar sind. Den Kindern entgehen so wichtige Beziehungserfahrungen und sie geraten auch in anderen sozialen Beziehungen in Konflikte, weil sie keine Erfahrungen mit Gefühlen und Bedürfnissen anderer Menschen haben.
Da solche Eltern sich derart zurücknehmen und ihre Persönlichkeit in allen Facetten, die zum Miteinander dazu gehören, nicht zeigen, können Kinder nicht erfahren, dass andere Menschen auch Bedürfnisse und eigene Standpunkte haben. Durch die „Servicehaltung“ bleiben Eltern konturlos und nehmen für Kinder keine klare Gestalt an. Kindern fehlt dann ein deutliches Gegenüber, welches das kindliche Verhalten spiegelt und beantwortet. Was fühlen Eltern denn wirklich? Was denken sie? Da sie sich vorgenommen haben, immer freundlich, zurückgenommen und beherrscht zu agieren, bleibt ihre eigentliche Haltung verborgen. Kinder erleben dann im Kontakt kein Gegenüber, keine klaren Positionierungen und so auch keine oder wenig Orientierung. Diese Kinder bekommen Aufmerksamkeit und Zuwendung, dies jedoch in einem Übermaß. Und: Sie erhalten keine brauchbaren Antworten, weder auf der emotionalen noch auf der Handlungsebene. Für sie ist nicht erkennbar, was ihre Eltern eigentlich wollen und welche Position sie vertreten.
Kinder erlebt so einen Mangel an Geborgenheit und echter Zuwendung, was sie erheblich verunsichert. Diese Verunsicherung zeigt sich für Außenstehende deutlich in der ständigen Unzufriedenheit und der vermeintlich "herrischen" Art und Weise, die diese Kinder oft an den Tag legen. Was sich für uns als "sozial unverträgliches Verhalten" zeigt, ist im Grunde ein verzweifelter Versuch dieser Kinder, ihren emotionalen Mangel zu kompensieren.
Was Kinder also NICHT brauchen, sind Eltern und Erwachsene, die Maßnahmen einsetzen, um das Verhalten an ein von ihnen gewolltes anzupassen.
"Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen."
– Johann Wolfgang von Goethe
Denn wenn wir das Verhalten von Kindern mit Strafen und Konsequenzen anpassen, verlieren Kinder den Zugang zu ihren eigenen seelischen Impulsen und somit auch zu ihren wichtigen emotionalen Grundbedürfnissen.
Wenn Kinder einen strafenden und sanktionierenden Umgang erfahren, werden sie diesen verinnerlichen und weitergeben. Dann werden sie unter Umständen im Erwachsenenalter tatsächlich zu Tyrannen. Tyrannen, die andere klein machen müssen, um sich selbst als stark und mächtig zu fühlen und daraus ihren Selbstwert gewinnen - vielleicht kennt Ihr auch solche Erwachsene? Sie sind überall zu finden.
Lassen wir uns also nichts einreden und keine Angst machen: Wir brauchen keine Angst vor »Tyrannenkindern« zu haben, wenn wir Bindung und die konstruktive Beziehung im Umgang mit unseren Kindern achten und ihre Gefühle und emotionalen Grundbedürfnisse berücksichtigen. Vielmehr werden wir dann Kinder haben, die ihre emotionalen Grundbedürfnisse und Emotionen kennenlernen und sich deshalb als Erwachsene später gut regulieren und für sich sorgen können – psychisch und physisch.
Kinder brauchen Führung – ohne die sind sie verloren, ja. Die Frage ist nur, wie die Qualität dieser Führung beschaffen ist und für welche Form der Führung ich mich als Erwachsener entscheide. Ist es eine autoritäre, sanktionierende Führung, eine die auf das Verhalten und Symptome orientiert ist und die Persönlichkeit des anderen ignoriert oder eine, die wertschätzend, vertrauensvoll auch die Emotionen und die Bedürfnisse des anderen berücksichtigt? Es ist unsere Entscheidung!
Über die Autorin
Katia Saalfrank ist Diplom-Pädagogin, Musiktherapeutin, Eltern- und Familienberaterin sowie erfolgreiche Ratgeber-Autorin. Sie arbeitet bindungs- und beziehungsorientiert in eigener pädagogisch-psychologischer Praxis in Berlin und stellt vor allem die konstruktive Beziehung zwischen Eltern und Kindern sowie die emotionalen Entwicklungsprozesse der Kinder in den Mittelpunkt. Von 2004 bis 2011 hat sie als Pädagogin in der RTL-Sendung Die Super Nanny Familien in schwierigen Situationen gecoacht. Katia Saalfrank ist Mutter von vier Söhnen und lebt mit ihrem Mann in Berlin.
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